Flucht und Vertreibung – ein menschliches Drama
Zwischen 1944 und 1950 wurden etwa 12 bis 14 Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten wie Schlesien, Ostpreußen, Pommern, dem Sudetenland und anderen Regionen vertrieben oder flohen vor der Roten Armee. Viele Menschen starben während der Flucht an Erschöpfung, Hunger, Kälte oder durch Gewalt.
Die Potsdamer Konferenz von 1945 erlaubte die "ordnungsgemäße Überführung" deutscher Bevölkerungsteile. In der Realität jedoch geschah diese unter oft unmenschlichen Bedingungen. Historiker schätzen, dass etwa 500.000 bis 2 Millionen Deutsche durch Vertreibung und ihre Folgen ums Leben kamen (vgl.1).
Zeitzeugenbericht Flucht: Wolfgang Scheiblich
Als im Januar 1945 der Beschuss der Roten Armee über die Oder immer heftiger wurde, klingte es um 3 Uhr morgens an der Tür. Alle hatten sich an einer Sammelstelle einzufinden. Die Mutter konnte nur das Nötigste mitnehmen. Es war kalt und es lag Schnee. Er musste mit seiner älteren Schwester den Schlitten mit den wenigen Habseligkeiten und der kleinen Schwester darauf ziehen. Die Mutter schob hinten. Es begann ein anstrengender Marsch von Brieg über Breslau nach Hirschberg (Jelenia Góra, 150 km - d. Red.) Mit einem Militärtransport ging es weiter nach Prag. Als die Flüchtlinge den Transport verlassen wollten, wurden sie durch amerikanische Soldaten beschossen. Als der Beschuss endete, ging der Transport weiter nach Eger (Cheb – d. Red) In Eger erlebten die Scheiblichs Bombardierungen im Keller eines Gefangenenlagers. „Oben die Kriegsgefangenen, in den Kellern wir,“ so Wolfgang Scheiblich. Als die Amerikaner die Stadt Eger einnahmen, verteilten sie von den Pnzrn herunter an die Kinder Schokolade. der Krieg war zu Ende und die Flüchtlinge konnten, wenn auch unter Entbehrungen und hungernd, in ihre Heimat zurückkehren – so dachten sie. (2)
Zeugenbericht Besatzung und Vertreibung: Wolfgang Scheiblich
Die Scheiblichs kamen mit dem Zug bis nach Breslau. Dort holten Polen die Mutter aus dem Zug und sie musste Arbeiten für sie verrichten. Die Kinder wurden einstweilen in einer Schule eingesperrt. In der Nacht floh die Mutter mit den Kindern von Breslau nach Brieg (ca. 40 km – d. Red). In der Wohnung in Brieg wohnten inzwischen Russen. Viele Fluchtrückkehrer teilten dieses Schicksal, dass ihre Wohnungen, ihre Häuser, Höfe oder Grundstücke bereits neue Bewohner und sogar neue Eigentümer gefunden hatten. Die Scheiblichs kamen in einem ehemaligen Kriegsgefangenenlager unter. Dort musste Wolfgang miterleben, wie seine Mutter von einem russischen Soldaten vergewaltigt wurde. Er schrie sich die Seele aus dem Leib, bis ein russischer Offizier zu Hilfe kam und den Soldaten halbtotschlug. Im August 1947 mussten alle Deutschen, die die polnische Staatsbürgerschaft nicht annehmen wollten, Brieg verlassen. Über ein ehemaliges Gefangenenlager kamen die Scheiblichs schließlich nach Naunhof zu Bauer Förster. „Zwei ehemalige Vorratskammern wurden unser neues Zuhause“ (3)
Insbesondere in den letzten Kriegsmonaten und unmittelbar nach Kriegsende kam es zu zahlreichen Kriegsverbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung. Der Bericht von Wolfgang Scheiblich steht dafür beispielhaft. Aber auch für Mitmenschlichkeit steht der Bericht. Beides sollte zur Erinnerungskultur gehören. Das Heft der Raeburger Schriftenreihe ist übrigens voller weiterer Beispiele.
Gedenksteine im Abseits
Lange Zeit wurde dieses Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte kaum öffentlich thematisiert. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für die schwierige Erinnerungskultur in Deutschland sind drei Gedenksteine für die Opfer aus Schlesien, dem Sudetenland und Ostpreußen (Abbildungen oben). Diese Steine befinden sich nicht an einem öffentlichen Ort, sondern fernab und verborgen auf einem privaten Grundstück in der Nähe von Radeburg.
Vor etwa 15 Jahren wurde von einem Radeburger, der selbst als Kind zu den Vertriebenen gehörte, der Vorschlag gemacht, die Steine an einem öffentlich sichtbaren Ort aufzustellen, um das Gedenken an sie würdig zu ermöglichen. Doch die Stadt und die Kirche von Radeburg waren damals nicht bereit, sich mit dem Thema intensiver zu befassen, geschweige ein geeignetes Grundstück bereitzustellen.
Gedenken – Erinnerung im Wandel
In den letzten Jahren hat man sich auch von öffentlicher Seite dem Gedenken geöffnet. Ein Beispiel ist die Eröffnung des Dokumentationszentrums „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ 2021 in Berlin, das den deutschen Vertriebenen eine würdige Stimme gibt – ohne dabei die deutsche Verantwortung für den Krieg und die NS-Verbrechen zu relativieren. (4,5) Vielleicht ist dieses neue Nachdenken über unsere Geschichte gerade im Angesicht neuer Kriege in Europa im 80. Jahr nach dem Ende des zweiten Weltkrieges inzwischen auch Anlass in Radeburg, den Umgang mit diesem Teil unserer Geschichte noch einmal zu überdenken.
Quellen:
(1) Hans Henning Hahn: Vertreibungen im 20. Jahrhundert – ein europäisches Trauma, München 2010
(2), (3) zitiert nach dem Interview mit Wolfgang Scheiblich aus der Schriftenreihe zur Geschichte der Stadt Radeburg, „Neue Heimat Radeburg“ Erinnerungen an Flucht und Vertreibung (erhältlich im Heimatmuseum Radeburg und beim „Büchermops“ in Radeburg)
(4) Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier „Flucht und Vertreibung“
(5) Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Berlin)