Radeburg: Bürgermeisterin fordert Plan zur Wiederöffnung

Bürgermeisterin Michaela Ritter blickt in eine düstere Zukunft für kleine Städte. „Wir gehen ins zweite Jahr einer weltweiten Pandemie, die leider auch hier in den Kommunen vor Ort deutliche Spuren hinterlassen wird,“ schreibt sie am 25. Januar in einem Brandbrief an den zuständigen Wirtschaftsminister Martin Dulig und an den für unsere Region zuständigen Landtags-Mandatsträger Mario Beger (AFD).

Rathaus im Winter, Foto: (c) Ideenwerk Radeburg GmbH

Foto: (c) Ideenwerk Radeburg GmbH

„Mir ist durchaus bewusst," so Radeburgs Rathauschefin, "dass zur Sicherung der medizinischen Versorgung und der Handlungsfähigkeit unserer Krankenhäuser die teilweise einschneidenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens notwendig waren und immer noch sind.“

Ja. Das Virus hat viel Leid unter die Menschheit gebracht. Jedem Erkrankten, vor allem den schwer Erkrankten, kann man nur wünschen, dass sie die Krankheit gut und möglichst ohne bleibende Schäden überstehen. Im Landkreis waren das geschätzte* 1.750 Fälle, darunter 68 in Radeburg.

Ebenso gilt unser Beileid den über 500 im Landkreis und den 15 in Radeburg gemeldeten Toten, bei denen laut ärztlicher Diagnose ein Zusammenhang mit einer Coronainfektion bescheinigt wurde.  Unser Beileid gilt aber ebenso der wahrscheinlich viel höheren** „Dunkelziffer“ an Menschen, die durch Vereinsamung, gar Isolation, an Angst, Depression, durch aufgeschobene Behandlungen, unterlassene Vorsorgeuntersuchungen usw. auch verstorben sind, ohne dass man sie „auf dem Schirm“ hatte.

An unterlassener Hilfeleistung drohen auch unsere Innenstädte zu sterben. Wie zahlreiche ihrer Bürgermeisterkollegen sieht auch Bürgermeisterin Michaela Ritter die Auswirkungen der „notwendigen Schließungen u.a. weiter Teile der Gastronomie, des Einzelhandels sowie von Teilen der Dienstleistungsbranche.“

„Gerade in Kleinstädten wie hier in Radeburg wird die Innenstadt durch die genannten Unternehmen bereichert und belebt. Nicht auszudenken, wenn alle diese Klein- und Kleinstunternehmen nach dem Ende der Pandemie nicht mehr weitermachen könnten. Dies wird zu einer dramatischen Verödung der Innenstädte führen, so wie sie von manchen Stadtplanern bereits heute heraufbeschworen wird. Das Unverhältnis wird besonders im Einzelhandel deutlich, wo kleine Läden trotz sehr guter Hygienekonzepte wochenlang schließen müssen, Discounter und Vollsortimenter aber neben den eigentlichen Waren des täglichen Bedarfs auch weiterhin all die Produkte verkaufen, die sonst eben der Einzelhandel vertreibt. Die Verschärfung der Konkurrenzsituation, die schon durch Online-Dienste besteht, wird dadurch massiv vergrößert. Kurzum – unsere Einzelhändler stehen mit dem Rücken an der Wand.“

Die Bürgermeisterin hatte eine Umfrage unter den Betroffenen gemacht, deren Ergebnis von ihr nicht mit an die Presse gegeben wurde, das jedoch über andere Kanäle an uns gelangt ist. Es zeigt das  Bild eines dramatischen Versagens. Ein Gastronom schreibt, dass er je 50% der beantragten Hilfen für November und Dezember erhalten hätte, davon jedoch die Erstattung des Kurzarbeitergeldes einbehalten wurde. „Ich bin also bis jetzt drei Monate in Vorkasse gegangen und der Abschlag deckt 70% der Betriebskosten. Ich habe keinen Cent davon für meinen eigenen Lebensunterhalt.“ Ein weiterer Händler beklagt, dass nicht einmal die Hälfte der Fixkosten übernommen wurde und er nicht weiß, wovon er nun eigentlich leben soll.

Hier wird auf das Kurzarbeitergeld für November und Dezember immer noch gewartet, dort wird beklagt, dass wegen paar geöffneter Tage im Dezember das Überbrückungsgeld komplett gestrichen wurde. Wieder einer schreibt, dass nur der Steuerberater Anträge für die Hilfsgelder stellen darf und man den nun auch noch bezahlen muss – und zwar sofort und nicht erst, wenn irgendwann eine Auszahlung erfolgt.

Wenn man ein „Mischbetrieb“ ist, so berichtet der nächste, wird die Sache noch komplizierter. Teile durften öffnen, andere nicht. Jetzt muss dargestellt werden, wie groß der Anteil des geöffneten bzw. des geschlossenen Geschäftsteils war. Die Regeln wurden zwischendurch auch immer wieder verändert. Das ist ein riesiger bürokratischer Aufwand. Bescheiden ausgedrückter Schlusssatz: „Es wird langsam schwierig.“

Laut einer Umfrage des Handelsverbandes sehen 80 Prozent der Ladeninhaber ihre wirtschaftliche Existenz bedroht. Auch deshalb gibt die Bürgermeisterin noch etwas zu bedenken: „Als Spender oder Sponsor unserer Sport- oder Jugendvereine, für Fasching oder Dorffeste, treten nicht die großen Ketten auf. Deren Konzernzentralen, meist in Westdeutschland, ist das gesellschaftliche Leben in unseren kleinen Orten egal. Nein, es sind die kleinen Händler, Handwerker, Gastronomen vor Ort, die mit Geld- oder Sachspenden helfen und unterstützen, weil ihnen an einem lebendigen Gemeinwohl gelegen ist. Wenn diese alle nicht mehr in der Lage sind zu unterstützen, wird auch sehr viel Unterstützung des Zusammenhalts in der Gesellschaft auf der Strecke bleiben.“

Nebenbei sei erwähnt, dass einzelne Radeburger Geschäfte von „aufmerksamen Mitbürgern“ angezeigt wurden, worauf das Landratsamt die Stadtverwaltung anwies, diese Geschäfte zu schließen. Da die Rechtsauslegung zumindest strittig war, hatten sich die Bürgermeisterin und Madleen Wannrich vom Gewerbeamt intensiv bemüht, mit Unterstützung der Rechtsaufsicht des Landkreises, eine Wiederöffnung einiger Geschäfte durchzusetzen. „Sie haben sich dann wirklich sehr gut gekümmert,“ lobt Stephanie Schmidt vom Kopierbüro die Verwaltung. „Wir durften öffnen, wenn Zeitungen und Zeitschriften im angebotenen Sortiment überwiegen. Deshalb wurden diese Artikel kurzerhand aufgestockt und andere Waren vorübergehend vom Verkauf ausgeschlossen. So zum Beispiel Spielwaren und Geschenkartikel. Aktuell wichtige Produkte für Homeoffice und Homeschooling wie Papier und Druckerpatronen durften so weiterhin im Sortiment bleiben. Auch eine Mitarbeiterin konnten wir aus der Kurzarbeit zurückholen.“ Auch das Blumen- und Regionalwarengeschäft Puhane durfte nach vorübergehender Schließung wieder öffnen, nachdem dort das Sortiment zu 51% aus Waren des täglichen Bedarfs besteht und nun der aktuellen Deutung der Rechtslage entspricht. Die Mitarbeiterinnen, denen Kerstin Puhane kündigen musste, hat sie nun wieder einstellen können.

Aufgrund des ganzen Hin und Her mit Öffnungen und Schließungen haben wir übrigens auf raz24.info schon seit einiger Zeit die Seite „Radeburg offen“ eingerichtet, auf der jeder nachsehen kann, ob der Laden, den er besuchen möchte, auch offen hat.

Der für unseren Wahlkreis zuständige Landtags-Mandatsträger Mario Beger (AfD) verweist in seinem Antwortschreiben auf die Staatsregierung, die „für die Maßnahmen verantwortlich ist, welche zu den von Ihnen angesprochenen Situationen führten und diese weiterhin verschärfen.“

Der von der Bürgermeisterin angeschriebene Vertreter dieser Landesregierung, Martin Dulig, hat noch nicht geantwortet. Eine entsprechende Nachfrage von RAZ blieb ebenfalls unbeantwortet. In einem Interview mit den DNN auf eine ähnliche Frage gab er den „schwarzen Peter“ von der Staatsregierung an den Bund weiter. Er, Martin Dulig, habe eine Zwischenfinanzierung aus Landesmitteln vorgeschlagen, um die Wartezeiten bei den Auszahlungen durch den Bund zu verkürzen. Dies habe jedoch der Bund „aus formalen Gründen untersagt.“ Der Bund hatte Abschlagszahlungen zugesagt, die aber, so geht aus der Umfrage hervor, auch noch nicht überall angekommen sind.

Eine „düstere Zukunft“ will Martin Dulig trotzdem nicht sehen: „Ich möchte mir jedenfalls nicht vorstellen müssen, wie unsere Innenstädte ohne den Einzelhandel aussehen.“ Er gibt zu bedenken, dass durch den Online-Handel „der Einzelhandel schon vor Corona unter massivem Druck gewesen“ sei. Er baut dann auch noch vor, dass kleine Geschäfte nach Corona vielleicht nicht zu retten seien, denn das läge dann „an unserem Einkaufsverhalten – ob Läden in den Innenstädten eine Chance haben oder das bequeme Online-Shopping künftig Alltag wird.“ Deshalb sei er in Gesprächen „mit dem Handelsverband, wie wir die Einzelhändler NACH dem Lockdown unterstützen können.“
Ein Blick über den sächsischen Tellerrand hätte genügt um zu sehen, dass es auch WÄHREND des Lock Downs wenigstens eine Minimal-Lösung gegeben hätte. Statt allen andern Bundesländern zu folgen und die kleinen Händler nun „zu ihrem Glück zu zwingen“ und selbst in den Online-Handel mit einem ersten Schritt durch so genannte Click-Collect-Geschäfte einzutreten, werden Click-Collect-Geschäfte in Sachsen verboten. So nennt man neudeutsch ein Verfahren, bei dem der Kunde online oder per Telefon Ware bestellt und sie zu einem vereinbarten Zeitpunkt an der Ladentür abholt. In allen anderen Bundesländern wird das praktiziert. Martin Dulig ist persönlich dafür verantwortlich, dass das nur in Sachsen nicht so ist.

Michaela Ritter schließt ihren Brief mit der Aufforderung, einen Plan zur Wiederöffnung aller Bereiche vorzulegen: „Es ist aufgrund der Entwicklungen der Pandemie schwer, sich hier auf Zeitpunkte festzulegen - dies ist mir bewusst. Aber es sollte doch in jedem Fall eine Strategie entwickelt werden, die schlüssige Begründungen für Öffnung oder Schließung bestimmter Bereiche enthält.“

Mario Beger antwortet: „Völlig zu Recht bemängeln Sie weiterhin eine fehlende Strategie zur Wiederöffnung aller Bereiche. Die AfD-Fraktionen in den Landesparlamenten und im Deutschen Bundestag haben dazu am 18. Januar 2021 ein Strategiepapier vorgelegt.“ Zugleich verweist er auf seine Machtlosigkeit, da „die Anträge seiner Partei regelmäßig von allen anderen Fraktionen abgelehnt werden.“

Martin Dulig hat bis jetzt, wie gesagt, nicht geantwortet, auch auf die Frage einer Strategie nicht. In seinem Interview mit der DNN hat er nur seinen Grundoptimismus zu bieten, dass Sachsen aufgrund seiner „kleinteiligen Wirtschaftsstruktur besser aus der Krise kommt als andere“.

Eine Politik, die immer neue Versprechungen macht, sie am Ende aber nicht hält, zerrt zunehmend auch an den Nerven der örtlichen Verwaltungen. Jüngstes Beispiel ist das Versprechen, die aktuell zu impfende Altersgruppe mit „Impftaxis“ zu den Impfzentren zu transportieren. In einer E-Mail an unsere Redaktion schreibt Bürgermeisterin Michaela Ritter: „Offenbar wurde die eigentlich gute Idee wieder verworfen. Warum, wurde nicht mitgeteilt – sind es evtl. Kostengründe? Dies hätte auch den Taxiunternehmen geholfen, die aktuell ohne Einkünfte sind.“

Der neueste „Coup“ ist der in der „Morgenlage“ der Sächsischen Zeitung geäußerte Vorschlag, für diese Fahrten die Freiwilligen Feuerwehren einzusetzen. Bürgermeisterin Ritter dazu: „Diese Idee überhaupt offen zu äußern, zeigt wie unsensibel das Krisenmanagement agiert. Diejenigen, die immer schon in ihrer Freizeit den Kopf für alles Mögliche hinhalten müssen (Brände, Unfälle, Hochwasser, Sturm etc. etc.) und denen aktuell aus Infektionsschutzgründen untersagt ist, Dienste durchzuführen, sollen im Gegenzug wahrscheinlich auch noch in ihrer Freizeit als „Impftaxis“ fungieren?“

Am Ende ihres Brandbriefes steht die Einladung an die Politiker, sich selbst vor Ort ein Bild zu machen. Ein Bild von den Kollateralschäden, die wie beschrieben durch unverhältnismäßige Maßnahmen einerseits, mangelnde Kommunikation und Nichthandeln andererseits entstanden sind.


Bemerkungen, Quellen: ­

*Schätzung der Fallzahlen im Landkreis und in Radeburg auf Basis von Studien des RKI und der Uni Bern:
11600 Landkreisbewohner (5%) bzw. 450 Radeburger (6%) haben lt. Letztem Tagesbericht des Gesundheitsamtes Meißen vom 04.02.2020  bereits einen positiven PCR-Test hinter sich. Da es keine konkreten Zahlen für den Landkreis und Kommunen gibt, wie viele davon erkrankt waren, sei hier auf Studien des RKI und der Uni Bern zurückgegriffen (hier zitiert nach Südwestdeutscher Rundfunk „So viele Coronavirus-Infizierte sind wirklich krank“. Demzufolge war von den positiv Getesteten die „überwiegende Zahl nicht schwer oder gar nicht“ erkrankt und die Zahl der schweren Fälle, die im Krankenhaus behandelt werden mussten, lag maximal bei 15%, zuletzt aufgrund hoher Test- und Fallzahlen bei 7%. Aufgrund der Rolle des Landkreises als „Spitzenkreis“ mit sog. Inzidenz 600 setzen wir die 15% Höchstwert an schweren Fällen an. Auf den Landkreis bezogen wären das 1.750 Personen, auf Radeburg bezogen 68 schwer Erkrankte.
Die Zahl der Verstorbenen, die Corona zugerechnet werden, liegt laut Corona-Dashboard des RKI bei deutschlandweit 2,6%, für den Kreis Meißen bei 4,3%. Radeburg liegt lt. Tagesbericht des Gesundheitsamtes vom 04.02.2020 (Link wie oben) mit 15 Todesfällen bei 3,3%.

** Schätzung auf der Basis der bei unserer Zeitung eingereichten vielfach höheren Zahl an Traueranzeigen