Kommentar zur deutschen Einheit: Deutschland, Deine Fahne, Deine Kanzlerin

Deutschland, ein schwarz-rot-goldenes Sommermärchen. Das war 2006. Nein, Deutschland hatte nicht gesiegt, aber Deutschland schien seine Identität endlich gefunden zu haben. Nicht im weltzerstörenden, auch nicht im weltverbesserischen Größenwahn, sondern mit einem bescheidenen, andere achtenden Stolz, ganz im Sinne des Hymnenentwurfs von Bertolt Brecht: Und nicht über und nicht unter andern Völkern wolln wir sein. 2020 scheint diese Begeisterung verflogen. Man schämt sich wieder für Schwarz-Rot-Gold - aus ganz verschiedenen Gründen. Manche greifen auf Schwarz-Weiß-Rot zurück. Beobachtungen von Gunter Weißgerber*.

Foto: © Wencke Wassermann / PIXELIO

Deutschland, ein Fahnenmeer - das Sommermärchen von 2006 erschien als ungeteilte schwarz-rot-goldene Identität. Was ist seit dem geschehen? Foto: © Wencke Wassermann / PIXELIO

Der 22. September 2013 markiert einen Paradigmenwechsel in der Binnensicht der Bundesrepublik, dessen Auswirkungen uns noch sehr lange beschäftigen werden.

Was geschah an diesem Tag? Die Union fuhr mit Angela Merkel mit 41,7 Prozent einen fulminanten Wahlsieg ein und war völlig berechtigt außer Rand und Band. Auch ich, damals noch Sozialdemokrat mit Parteibuch, war zufrieden. An einer so starken Union war für die SPD schwer Vorbeikommen und RotRotGrün auf Bundesebene vorerst passe.

Die gesamte Union war an dem Abend aus dem Häuschen und einer schien es besonders zu sein. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe verband den Unions-Sieg mit der Nationalflagge - was für Merkels Vorgänger im Amt der Bundeskanzler bis dato selbstverständlich war. Zur Deutschen Einheit 1990 kam es mit mehrheitlichem Volkswillen in den Farben Schwarz-Rot-Gold – den Farben der Freiheitskriege 1813-1815, des „Hambacher Festes“ 1832, den Farben der 1848er März-Revolution und der Frankfurter Nationalversammlung, der „Weimarer Republik“, der Bundesrepublik von 1949.

Keinen Platz fand die Fahne von Freiheit und Demokratie im „Norddeutschen Bund“ und im Kaiserreich, verboten war sie im Dritten Reich, verfälscht mit den Insignien des Sozialismus Hammer, Zirkel, Ährenkranz in der DDR.
Eine oft gequälte, verfremdete, verleugnete Fahne. Weggerissen, beinahe weggeworfen durch eine/n demokratisch vereidigte/n Kanzler/in wurde sie noch nie. So ein Umgang mit diesem Symbol blieb bis dato den dunklen Gestalten der deutschen Geschichte vorbehalten.

1989 standen die Ostdeutschen gegen die sozialistische Diktatur und für eine Republik ohne ideologisch einengendes Attribut auf. - Bei den Montagsdemos im Herbst/Winter 89/90 wurden die aufgedrückten Insignien der sozialistischen Macht demonstrativ aus den drei Farbstreifen Schwarz, Rot und Gold herausgeschnitten mit dem Ergebnis der alten und neuen demokratischen Nationalflagge.

Die Freiheit hatte die Ostdeutschen mit der Flagge des Hambacher Festes, der 1848er Nationalversammlung, und der Weimarer Republik 1989 wieder! Eine glückliche Zeit. Eine Zeit, die die Deutsche Einheit in Freiheit und Demokratie – in den Farben der Demokratie – 1990 möglich werden ließ.
 
Ob Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl oder Schröder, sie alle machten Wahlkampf mit dem Grundgesetz im Kopf und in den Farben der Republik. Selbst die Bundeskanzlerin Merkel machte bis zu diesem Erfolg keinen öffentlichen Eindruck des Fremdelns mit den Farben der deutschen Demokratie.

Aber: Am Wahlabend 2013 fiel die Maske. Angela Merkel entriss dem stolz fahnenwedelndem Hermann Gröhe erbost die Nationalflagge. Sie wollte mit dem Wahlsieg im Rücken an dem Abend ein anderes Signal. Ein Signal an die „Deutschland-Du-mieses-Stück-Scheiße“-Grünen. „Schwarz-Rot-Gold“ passten da überhaupt nicht zum Thema.

Ob Angela Merkel kein positives inneres Verhältnis zur deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte hat und sie deshalb berechneten Herzens das Symbol deutscher Freiheit und Demokratie vom Podium verbannte oder ob sie es schweren Herzens tat, das wissen wir nicht.

Was sie anrichtete, das jedoch wissen wir inzwischen sehr gut. Frau Merkel warf das wertvolle Symbol unserer Demokratie der AfD vor die Füße. Negativ symbolträchtiger und verheerender verhielt sich keiner ihrer Vorgänger. Vertrauensverlust in die Institutionen dieser Republik und Fremdeln mit den eigenen Farben sind Teil ein- und derselben Medaille: Die Medaille des Abrutschens dieser Republik.

Angela Merkel als Bundeskanzlerin ist die oberste moralische Entwerterin des Grundgesetzstaates. Dies ist mein Land, dafür ging ich mit Hunderttausenden auf die Straße. Den Hunderttausenden wurden Freiheit und Demokratie nicht geschenkt. Bei Angela Merkel bin ich mir da nicht so sicher. Meine Bundeskanzlerin ist sie jedenfalls nicht. Nicht nur deshalb.

Die „Neue Ostpolitik“ der bundesdeutschen Regierung Brandt/Scheel führte in der DDR zu großer emotionaler Unbehaglichkeit. Die eigene Nationalhymne mit ihrem Aufruf „Deutschland, einig Vaterland“ stand für zu viel Nähe der „antagonistischen“ deutschen Staaten Bundesrepublik und DDR. Von Stund an durfte die eigene Hymne nicht mehr gesungen werden. Anders herum: Wer die DDR-Nationalhymne sang, war ein Gegner.

Was ist nun, 2020, mit dem öffentlichen Zeigen der bundesdeutschen Nationalflagge? Von Geschichtswissen anscheinend freie Journalisten wittern spätestens seit Merkels Schwarz-Rot-Gold-Fremdschämen dort Staatsfeinde, wo die Nationalflagge ohne Erlaubnis von oben öffentlich auftaucht.

Aus der deutschen Fußball-Nationalmannschaft wurde "Die Mannschaft". Schwarz, Rot und Gold verschwanden von den Trikots. "Die Mannschaft" präsentiert sich farblos. Ist, wer sich in deutschen Farben zeigt, automatisch rechts?

Der Widerspruch ist eklatant. Ist das Reichstagsgebäude mit seiner obligatorischen Beflaggung von Rechten okkupiert? Sind dem Staat „Schwarz-Rot-Gold“ erlaubt, dem Bürger nicht? Ist die staatsbürgerliche Identifikation mit „Schwarz-Rot-Gold“ etwa identisch mit dem „Schwarz-Weiß-Rot“ der Antidemokraten, den Farben von Monarchie, nationalsozialistischer Diktatur und Antifa? Wer jetzt stutzt: das Antifa-Logo kommt ebenfalls Schwarz-Weiß-Rot daher (sic!).

Wer ist hier eigentlich ein Fall für den Psychiater? Die Nationalflaggenschämer oder die  Nationalflaggenzeiger? Wer hat den Weg zu dieser psychiatrisch behandlungswürdigen Situation geebnet? Frau Merkel oder die AfD? Richtig, die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland war es, die diese Straße für die AfD öffnete. Statt den Grünen zu signalisieren, eine Koalition gibt es nur mit dem Grundgesetz und in den Farben der Republik, machte sie denen ein demokratietheoretisch und historisch verkorkstes Brautgeschenk. Und die folgsame Union wehrte sich nicht, ließ den Fahnenjunker Gröhe belämmert im Regen stehen.

Wer die Nation und deren demokratische Insignien anderen überlässt, sollte sich wenigstens des Wunderns über die Ergebnisse halbwegs stilvoll enthalten. Antidemokraten jedenfalls lachen sich schlapp über diese unerwartete Preisgabe. 

Eine böse Frage: Identifiziert sich Angela Merkel mit dem Grundgesetz und seinen Farben stärker oder tut das die AfD? Mir scheint, hier liegen Identitätsprobleme sowohl im Kanzleramt als auch auf der Straße. Beide verzichten auf Schwarz-Rot-Gold. Vielleicht stehen Frau Merkel und die AfD sogar für ein- und dasselbe Phänomen? So wie Ursache und Folge?

Nachtrag zu Frau Merkels Auf- und des Fahnenjunkers Abtritt:
Den Videoausschnitt finde ich nicht mehr bei den Öffentlich-Rechtlichen Anstalten, nur noch in Foren der von Frau Merkel selbstgeschaffenen Merkel-Gegner. Das Suchen kann ich den Lesern nicht ersparen. Man google mit den Begriffen „Merkel“, "Gröhe“ „Nationalflagge“ …


*Unser Autor Gunter Weißgerber, Jahrgang 1955, war 1989 Leipziger Gründungsmitglied der SPD, vertrat diese 1990 in der ersten frei gewählten Volkskammer und anschließend bis 2009 Mitglied des Bundestages. Er holte als einziger sächsischer Abgeordneter ein Direktmandat für die SPD (alle anderen gingen an die CDU). 2008 erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande. 2009 kandidierte er nicht mehr und lebt seit dem als Publizist in der Nähe von Leipzig. 2019 gab der Sozialdemokrat sein Parteibuch zurück. RAZ freut sich, seinen Lesern zum Tag der Einheit diesen Beitrag eines prominenten sächsischen Zeitzeugen der Deutschen Einheit präsentieren zu können. Dies ist eine aktualisierte Fassung des zuerst auf Globkult unter dem Titel Angela Merkel und die Schatztruhe der Demokratie. Ein Identitätsproblem erschienenen Beitrags.

Nachtrag zum Kommentar: denkwürdiger Fahnen-Appell in Oberlichtenau

Zu einem denkwürdigen Fahnen-Appell, gar nicht im Sinne der Totalitären, kam es am Dienstag, dem 17. November 2020 in Oberlichtenau, am Fuße des Keulenbergs gelegen. Dort, wo sich die LPG einst den Namen des DDR-Geburtstages gab und die SED-Diktatur ihre örtliche Verwaltung hatte, wurde eine besondere Deutschlandfahne gehisst: eine Fahne des Deutschen Bundestages, die der damalige Präsident des Bundestages, Norbert Lammert, dem ausscheidenden Bundestagsabgeordneten und Träger des Bundesverdienstkreuzes, Gunter Weißgerber, zur Erinnerung überreichte. Zu den Hintergründen und wie sie nun nach Oberlichtenau kam, erläutert Gunter Weißgerber in diesem Video selbst. Er appellierte an das Hochhalten der Fahne als Symbol der Demokratie, der Freiheit und des Grundgesetzes. Weißgerber holte als einziger SPD-Kandidat in den 90er Jahren ein sächsisches Direktmandat für die SPD. Im vergangenen Jahr gab der einstige SPD-Ost-Mitbegründer sein Parteibuch zurück. Gunter Weißgerber äußert hier noch einmal die GRünde, warum ihm Schwarz-Rot-Gold so wichtig ist.