Alternativlosigkeit muss ein Ende haben!

Bert Wendsche, der parteilose Oberbürgermeister der Stadt Radebeul, schrieb einen Kommentar zur Bundestagswahl, der zuerst am Samstag, dem 14. Oktober in der Sächsischen Zeitung veröffentlicht wurde. Der Artikel ist zunächst eine Abrechnung mit einer verfehlten Politik. Aber nicht nur das. Er sagt auch, was man besser machen kann - und muss. Mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlichen wir den Beitrag auch bei uns.

Täve, Bert Wendsche und Stanislaw Tillig

Stanislaw Tillich im Gespräch mit Bert Wendsche und Täve Schur (v.r.) bei einer Radsportveranstaltung im August 2014

Vielfach wird in Sachsen erschrocken auf das Ergebnis der Bundestagswahl geschaut. Manch einer scheint überrascht zu sein. Doch das Ergebnis ist keine Überraschung, es haben nur vielfach die politischen Antennen, die Seismografen versagt.

Es ging bei der Wahl nicht vordergründig um rechts oder links. Auch die Flüchtlingskrise und der Umgang mit ihr war nicht die Ursache, sondern der berühmte Tropfen, besser der große Eimer, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es gibt ein weitverbreitetes, um sich greifendes Gefühl der Verunsicherung, des Nichtgehört-, des Nichtverstandenwerdens, der Ohnmacht. Und dieses wird aus diversen Quellen gespeist.

In den Nachwendejahren orientierten wir uns am Bild der Leuchttürme – einem Meer kleiner, mittlerer und großer Leuchttürme, verteilt über das ganze Land und alle mitziehend. Zwischenzeitlich sind mehr und mehr Lichter ausgegangen. Übrig geblieben sind zwei einsame Türme: Dresden und Leipzig.

Die Dörfer und kleineren Städte jenseits von Dresden und Leipzig sind zwar oft schön saniert, haben intakte Fußwege und Straßen, aber dennoch gleichen sie oft Potemkinschen Dörfern, leeren Hüllen. Es gibt keine Schule, keinen Laden, keine Kneipe, keinen Bankautomaten, die letzte Arztpraxis hat lange geschlossen. Während man in Dresden oder Leipzig über Giga-byte-Netze redet, ist hier oft nicht einmal an einfachste Breitbandlösungen zu denken. Ach, und der Bus fährt, wenn überhaupt, einmal am Morgen und einmal am Abend.

Wenn die Kinder groß sind, gehen sie für ihre Zukunft weg, weit weg. Wer will es ihnen verdenken? Zurück bleiben Einsamkeit und Leere. Und dann kommen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise Wissenschaftler in ihren Elfenbeintürmen auf die grandiose Idee, in diesen sich leerenden Räumen Flüchtlinge anzusiedeln. Man stelle sich vor, wie die Menschen in den Dörfern dies empfinden: als schallende Ohrfeige.

Ein Sturm der Entrüstung in der sonst so aufgeladenen Politik- und Medienlandschaft? Fehlanzeige! Verraten, verkauft und vergessen! Mit technokratischer Vehemenz haben wir mit dem Totschlagargument der Wirtschaftlichkeit immer größere Einheiten – Großgemeinden, Großkreise – geschaffen. Anstatt den Weg der kommunalen Zusammenarbeit zu beschreiten, sind wir den der Fusionitis gegangen.

Geld gespart haben wir dabei kaum, aber die Folgen für die lokale Gemeinschaft sind fatal. Wie soll in einem Großkreis wie Meißen ein Glaubitzer, ein Stauchitzer den Coswiger oder Radebeuler verstehen und umgekehrt? Man kennt sich kaum. Wie soll ein Bürgermeister mit 30 und mehr Ortsteilen ein Ohr für alle haben?

Ach ja, den Stammtisch gibt es ja auch nicht mehr, da die letzte Kneipe längst geschlossen hat. Die kirchliche Bindung ist bekanntermaßen gering, und Parteistrukturen sind ebenfalls wenig ausgeprägt. Wo ist das Gesicht, der Vertraute, der die Sorgen und Nöte vor Ort aufgreift, der manchmal einfach nur zuhört? So wie jede Familie, jede Beziehung den Austausch, das Gespräch braucht, sonst läuft sie früher oder später Gefahr zu zerbrechen, so geht es auch der politischen Gemeinschaft. Sprachlosigkeit ist das schleichende Gift der Zerstörung.

Und dann ist da die Hydra des Fördermittelunwesens. Wir sind mittlerweile eingeübt darin, für jedes auftauchende Problem ein neues Förderprogramm zu fordern. Wir sind Meister darin, um immer höhere Fördersätze zu streiten. Doch dies alles mit fatalen Folgen!

Kommunalpolitik in den Städten und Dörfern wird dadurch immer alternativloser. Wir sind nicht mehr in der Lage, im demokratischen Ringen vor Ort zu entscheiden, ob Investition A oder B wichtiger ist. Es bleibt nur A, weil es nur dafür Fördermittel gibt. So entscheiden Dresden, Berlin, Brüssel mehr und mehr, was vor Ort notwendig zu sein hat. Kommunale Selbstverwaltung ist ein Papiertiger der Alternativlosigkeit. Doch Gemeinsinn, Gemeinschaft lebt vom Ringen um die beste Lösung. Wo es nichts zu erringen gibt, erstirbt auch die Gemeinschaft. Enttäuschung! Ernüchterung! Rückzug ins Private! Daher gehören die Förderprogramme rigoros zurückgeschnitten und stattdessen das Geld den Städten und Gemeinden zur freien Verfügung übergeben. Dies erspart immense Bürokratie, beschleunigt die Verfahren und reduziert die überbordenden Standards. Aber vor allem wird Kommunalpolitik wieder interessant, anziehend. Auf einmal kann man vor Ort wieder eigenverantwortlich entscheiden, ob Investition A oder B oder gar C wichtiger ist.

Bärbel Bohley, eine Ikone der DDR-Bürgerrechtsbewegung, prägte den Satz: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Leider hatte dieser noch nie einen so bitteren Beigeschmack wie heute.

Die fehlende Polizeipräsenz ist das eine, mindestens genauso schwer wiegt das Gefühl der Ohnmacht und Ungerechtigkeit. Egal, ob Gebührenbescheide, Knöllchen oder Abwasserbeiträge, allesamt werden sie konsequent beigetrieben. Jedoch bei Graffitischmierereien, Autoklau, Einbruch, Drogendelikten werden die Täter – unabhängig ob Inländer oder Ausländer, wenn überhaupt, oft erst nach quälend langer Zeit ermittelt. Die Strafen erscheinen gering. Die Psyche der Täter spielt bei der Strafbemessung eine gewichtige Rolle, während die psychischen Folgen für die Opfer oft ohne Widerhall bleiben.

Ähnliches im Spannungsfeld von Gemeinwohl und Privatrecht. Wenn Rechtsstreite sich hier, wie in Radebeul bei Sportplatz und Friedensburg, über nahezu zehn Jahre erstrecken ohne absehbares Ende, wenn man dabei erleben muss, dass mit Geld und immer neuen Kniffen ein Endurteil immer weiter verzögert wird, dann macht dies mürbe, ernüchtert. Letztlich droht das Gemeinwohl auf der Strecke zu bleiben, weil keiner mehr dafür kämpft. Doch ohne Gemeinwohl gibt es kein Gemeinwesen.

Ist es wirklich zu viel verlangt, rasch, klar und konsequent Recht nicht nur zu setzen, sondern vor allem auch durchzusetzen? Allenthalben hört man von den Segnungen des Fortschritts. Er fordert Veränderungen, belohnt jedoch mit seinen Segnungen. Die Verheißung des gelobten Landes! Ob Globalisierung, Atomausstieg, Energiewende, E-Mobilität oder Digitalisierung, alles erscheint alternativlos. Fortschritt, Fortschritt, Fortschritt! Doch Fortschritt passiert nicht im luftleeren Raum, jede Veränderung muss durch Menschen umgesetzt werden, hat Gewinner und Verlierer. Darüber wird geflissentlich hinweggegangen.

Obwohl wir noch nie so saubere Luft hatten, so wird aktuell die Keule „Dieselfahrverbot“ geschwungen, um eine „Verkehrswende“ zu erzwingen. Doch wer hat die Familie auf dem Lande im Blick, die sich angesichts ihrer schmalen Haushaltskasse nur einen älteren Gebrauchten leisten kann, wer den kleinen Handwerksbetrieb, der mit seinem betagten Transporter gerade so über die Runden kommt?

So wie man im Fußball für ein erfolgreiches Spiel Angriff und Verteidigung beherrschen muss, so braucht eine erfolgreiche Gesellschaft die Balance zwischen Bewahren und Veränderung, zwischen Identität und Offenheit!

Konservativ, als Bewahren des Überkommenen, des Bestehenden, ist daher weder rechts noch links, es ist zutiefst menschlich und notwendig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Leider hat die politisch-mediale Übermacht des Fortschrittsglaubens dafür den Blick verloren. Damit geriet jedoch auch die Bedrängnis des „kleinen Mannes“ aus dem Fokus.

Eine Vielzahl von Quellen – sicher wären weitere zu nennen – haben den Fluss der Unzufriedenheit, der Enttäuschung, der Verbitterung anschwellen lassen. Das Wahlergebnis hat dies offenbart. Es liegt an uns, uns allen, damit verantwortlich umzugehen. Nicht spalten, verurteilen oder gar einander als Deppen beschimpfen, sondern zuhören, versuchen, einander zu verstehen und gemeinsam nach Antworten zu suchen. Nicht Geld und gute Worte, sondern einzig Besinnung und Veränderung können den Strom der Enttäuschung zum Versiegen bringen.

Entweder den paternalistisch vormundschaftlichen Staat weiter stärken – hatten wir den nicht eigentlich 1990 auf den Müllhaufen der Geschichte werfen wollen!? – oder das Ideal der Gemeinschaft mündiger Bürger wieder kraftvoll leben. Alternativlosigkeit muss ein Ende haben.