Lockdown für Schulen und Kita wird verlängert - längst nicht alle Experten finden das gut

*Update 20.2.2021* Schulen, Schulinternate und Einrichtungen der Kindertagesbetreuung bleiben bis nunmehr bis zum 14. Februar 2021 geschlossen. Sachsens Bildungsminister Christian Piewarz sieht das kritisch.

Sachsens Bildungsminister: Schließen der Bildungseinrichtungen kaum mehr zumutbar

Die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen an Oberschulen, Förderschulen (die nach Lehrplänen der Oberschule unterrichtet werden), Gymnasien (Jahrgangsstufen 11 und 12), Beruflichen Gymnasien (Jahrgangsstufen 12 und 13), Fachoberschulen, Abendoberschulen, Abendgymnasien (Jahrgangsstufen 11 und 12) und Kollegs (Jahrgangsstufen 11 und 12) können die Schulen weiterhin besuchen. Das stellte Kultusminister Christian Piwarz nach der heutigen Kabinettssitzung klar. »Nach dem Beschluss der gestrigen Bund-Länder-Beratung können wir den Schülerinnen und Schülern der Abschlussklassen weiterhin Präsenzunterricht ermöglichen. Daran halten wir auch fest. Die Schüler sollen die Chance haben, sich sorgfältig auf ihre Abschlussprüfungen vorzubereiten«, so der Minister. Die Verlagerung der einen Woche Winterferien auf Anfang Februar und die Verlängerung der Osterferien bleiben bestehen.

Zugleich bedauerte der Minister, dass der Lockdown für einen großen Teil der Schüler bis Mitte Februar verlängert wurde. »Ich hoffe sehr, dass wir im Februar Kitas und Schulen zumindest im eingeschränkten Regelbetrieb wieder öffnen können. Je eher, desto besser, aber immer mit Blick auf das Infektionsgeschehen. Die Kinder und Jugendlichen leiden sehr unter dem Lockdown. Ein längeres Schließen der Bildungseinrichtungen ist für Kinder und Eltern kaum mehr zumutbar«, so Kultusminister Christian Piwarz.

Weitere Entscheidungen für den Betrieb von Kindertageseinrichtungen und Schulen werden mit der neuen Corona-Schutz-Verordnung in der kommenden Woche getroffen.

(PM des SMK)

Experten üben Kritik an den Schließungen

In einem BILD-Interview sagte der Experte für Krankenhaushygiene, Prof. Dr. Klaus-Dieter Zastrow, dass von Kindern keine Gefahr ausgeht und bei Einhaltung der Hygieneregeln die Einrichtungen wieder öffnen sollten. Bereits im November hatte eine interdiszipliäre Autorengruppe mit 6 Professoren kritisiert (im verlinkten Papier auf Seite 29f), dass während der 2. Welle zur Infektiosität von Kindern keine Studien erhoben wurden. Lediglich eine Studie aus Österreich unter 16000 Kindern ergab 1,88% "Positive". Andreas Romberg, Chefarzt der Clemens-August-Jugendklinik des Landkreises Vechta befürchtet gegenüber NDR, dass psychische Probleme bei Kindern zunehmen werden. Manche seien jetzt schon nicht mehr in der Lage, ohne Angstzustände das Haus zu verlassen. Auch Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), warnt gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung vor der Belastung für Familien. Die Vorstellung, Eltern könnten im Homeoffice arbeiten und nebenher Ersatzlehrer spielen und den Unterricht für die Kinder ersetzen, "ist absurdes Denken". 

Tanja Brunnert, Sprecherin des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in Niedersachsen berichtet im Norddeutschen Rundfunk über eine Zunahme von Traurigkeit Ängsten, Schlafstörungen, Übergewicht, Bewegungsmangel, Mangel an motorischen Fähigkeiten und sprachlichen Fertigkeiten. 80% der Eltern berichten, dass ihre Kinder darunter leiden, Freunde nicht besuchen zu dürfen. Jan Hildebrand vom Handelsblatt stellt dazu fest: "Es war das große Versprechen der Politik nach dem ersten Lockdown: Bei einer möglichen zweiten Corona-Welle sollten nicht wieder Kinder die größten Opfer zur Eindämmung der Pandemie bringen müssen. Mit den Beschlüssen, die Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten am Dienstag getroffen haben, wurde dieses Versprechen endgültig gebrochen".

Verhältnismäßigkeit wahren, KiTas und Schulen wieder öffnen, Vereinssport zulassen!

Offener Brief von Leserin Grit Marx

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretzschmar,
ich möchte Sie an die UN-Kinderrechtskonvention erinnern, die Deutschland am 06.03.1992 ratifiziert hat. Damit gilt auch in Deutschland (zu dem Sachsen wohl gehört!):

„Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Artikel 3 Absatz 1

Wenn Sie also Maßnahmen wie Kita- und Schulschließungen, Untersagen von Vereinssport ergreifen, dann müssen Sie klar aufzeigen können, dass das dem Wohl des KINDES dient. Denn das ist vorrangig zu berücksichtigen. Ich befürchte, dass Sie keine dementsprechenden Belege (dass die Maßnahmen den Kindern mehr nützen als schaden) vorweisen können. Selbst die kurzfristigen Schäden übersteigen bereits jetzt den kleinen positiven Effekt hinsichtlich Infektionsschutz.

Die Grafik, die ich für Sie gemacht habe, ist eine ganz einfache.

Dieses Diagramm beruht auf den Ausbruchsdaten, die das RKI veröffentlicht. Wie Sie unschwer erkennen können, ist Ausbildung, Kindergarten und Hort unwesentlich am Infektionsgeschehen beteiligt.
Frage: Um wieviel hoffen Sie, die Inzidenz durch Kita- und Schulschließungen zu reduzieren? Ich traue Ihnen (als Wirtschaftsingenieur) nämlich zu, dass Sie rechnen können.

Sorgenvolle Grüße;
Grit Marx

Büro Kretschmer: Verständnis für Verzweiflung - aber sachlich bleiben!

Antwort aus dem Bürgerbüro des Ministerpräsidenten auf den Offenen Brief von Grit Marx

Sehr geehrte Frau Marx,
vielen Dank für Ihre Nachricht. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass es mit der Antwort so lange gedauert hat. Im Augenblick erreichen Ministerpräsident Michael Kretschmer und das Bürgerbüro der Staatskanzlei wöchentlich sehr viele Zuschriften, die wir nicht annähernd zeitnah bearbeiten können.

Durch den Zeitablauf erledigt sich manche Anfrage aber zumindest teilweise von selbst. Im Dezember hat der Freistaat Sachsen damit begonnen, 5 Millionen Gratis-FFP2-Masken, so wie Sie es angeregt haben, zunächst an Mitarbeiter in den Einrichtungen des Gesundheitswesens und über die Apotheken an die besonders gefährdeten Senioren zu verteilen. Inzwischen sind auch die Impfungen angelaufen. Und wie Sie es für richtig halten, hat der Freistaat über das Wissenschaftsministerium zahlreiche Forschungsvorhaben unterstützt, die einen Bezug zur Corona-Pandemie haben, mit insgesamt 16 Millionen Euro. (Hier finden Sie die Liste der Vorhaben.)

Schwer zu verstehen ist allerdings, warum Sie einerseits es für richtig halten, besonders gefährdete Menschen zu schützen (z.B. durch die von Ihnen befürwortete Verteilung von FFP2-Masken oder Impfungen) und andererseits behaupten, der Staat könne mit seinen Maßnahmen das Infektionsgeschehen nicht beeinflussen. Wenn letzteres richtig wäre, warum sollte er dann kostenlose Masken verteilen und Impfforschung finanzieren?

Und wenn es Ihrer Ansicht nach nicht Aufgabe des Staates ist, Menschenleben zu retten, warum prangern Sie dann die sinkende Bettenzahl in den Krankenhäusern an?

Ihre Verzweiflung über die Kitaschließungen, die für alle Eltern mit Schwierigkeiten verbunden sind, ist nur zu verständlich. Dennoch sollten wir mit unserer Kritik sachlich bleiben.

Zu Ihrer Frage nach den wissenschaftlichen Grundlagen: Die gibt es durchaus, zum Beispiel eine Einschätzung der Amerikanischen Gesellschaft für Infektionsmedizin (hier) oder eine Veröffentlichung im British Medical Journal, der zufolge die Beschränkung physischer Kontakte die Zahl der Neuinfektionen um durchschnittlich 13% senke (hier). Aber selbst in Abwesenheit belastbarer wissenschaftlicher Erkenntnisse müssen Politik und Verwaltung handeln. Wenn bekannt ist, dass das Virus durch Aerosole von Mensch zu Mensch übertragen wird und es zugleich eine große Zahl symptomfreier, aber infizierter und infektiöser Patienten gibt, sagt der gesunde Menschenverstand, dass man die physischen Kontakte in der Bevölkerung so weit wie möglich beschränken sollte, um die Ausbreitung dieses für viele Menschen tödlichen Virus und auch die Spätfolgen einer Erkrankung zu verhindern.

Im Übrigen bekommt Ministerpräsident Kretschmer auch viele Zuschriften von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die aus Angst um ihre Familien solche harte Maßnahmen, wie sie jetzt in Kraft sind, gefordert haben.

Mit freundlichen Grüßen und allen guten Wünschen

Ulrich Hartenstein
SÄCHSISCHE STAATSKANZLEI | STATE CHANCELLERY OF SAXONY
Bürgerbüro beim Ministerpräsidenten

Zum gesunden Menschenverstand gehört eine Nutzen-Risiko-Abwägung

Grit Marx antwortet dem MP

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretzschmer,

vielen Dank für die ausführliche Antwort Ihres Mitarbeiters. Für die Verzögerung habe ich durchaus Verständnis. In der Haut eines Politikers oder einer Politikerin möchte ich derzeit nicht stecken. Andererseits wurde dieser Weg meistens bewusst eingeschlagen.

Ich möchte meine Antwort auf mein erstes Schreiben beziehen und Ihre Antworten dort einfließen lassen.

Meine erste Anfrage galt dem 15km-Radius. Darauf bleiben Sie eine Antwort schuldig. Prof. Brockmann selbst gab bekannt, dass man keine Daten zum Zusammenhang von Kontakten und Reisen kennt. Und selbst mit allgemeinem Verständnis ist ein Zusammenhang zwischen Entfernung und Kontaktanzahl nicht nachvollziehbar. Im Gegenteil – sehr viele Menschen werden sich über eine Distanz von mehr als 15km wohl eher im Auto auf den Weg machen, haben also über den gesamten Weg gleichbleibenden Kontakt zu den selben Personen.

Zu den Kita- und Schulschließungen: Sie erwähnen selbst die Forschungsvorhaben, die Sachsen finanziell unterstützt. Warum nutzen Sie nicht auch deren Erkenntnisse? Dazu möchte ich noch einmal auf Artikel 3 der Kinderrechtskonvention verweisen, die auch Deutschland ratifiziert hat. Das Wohl des Kindes ist vorrangig zu berücksichtigen! Zwischenmenschlich finde ich es arg bedenklich, Kindern die Verantwortung über den Tod der Großeltern zuzuschreiben. Eine Traumatisierung ist dabei sicher nicht auszuschließen.

Sie schreiben: „Schwer zu verstehen ist allerdings, warum Sie einerseits es für richtig halten, besonders gefährdete Menschen zu schützen … und andererseits behaupten, der Staat könne mit seinen Maßnahmen das Infektionsgeschehen nicht beeinflussen.“ Ich habe den Brief mehrfach durchgelesen und finde keine Behauptung von mir, die so etwas aussagt. Ich habe geschrieben „Sie werden das Infektionsgeschehen nicht verhindern können.“ Die Infektion*szahlen bestätigen diese Aussage. Sie sind doch nicht bei 0, oder? Ich glaube schon, dass sie beeinflussbar sind und sogar sehr, wenn sie an geeigneter Stelle angreifen. Also dort, wo die Infektionen in Massen stattfinden – in Alters- und Pflegeheimen.

Sie schreiben: „Und wenn es Ihrer Ansicht nach nicht Aufgabe des Staates ist, Menschenleben zu retten, warum prangern Sie dann die sinkende Bettenzahl in den Krankenhäusern an?“ Nein, das habe ich nicht geschrieben. Ich schrieb: „Der Staat hat nicht die Pflicht, Menschen vor Krankheiten zu schützen.“ Und das ist ein erheblicher Unterschied. Ich habe sogar geschrieben, dass der Staat eine adäquate Behandlung sicherzustellen hat! Und insofern ist es nicht nachzuvollziehen, dass ausgerechnet während einer Pandemie weitere Krankenhäuser geschlossen werden!

Und nein, mir geht es nicht um meine persönliche Belastung während der Schul- und KiTa-Schließungen. Mich treibt die Sorge um alle Kinder um. Was ich mir von jedem Menschen wünschte. Das tut es schon seit vielen, vielen Jahren. Ich sehe, dass alle mühsam erkämpften Fortschritte sich durch die Maßnahmen umkehren und es den Kindern wieder schlechter geht. Dieses Leid macht mich traurig – als mitfühlender Mensch.

Zum gesunden Menschenverstand, den Sie anführen, zählt auch – wie in der Medizin üblich – eine Nutzen-Risiko-Abwägung. Die Corona-Maßnahmen wirken auf mich dagegen wie ein wildgewordener Boxer, der um sich schlägt und dabei Zufallstreffer erzielt. Andererseits aber viele Unschuldige trifft.

Sie schreiben: „Im Übrigen bekommt Ministerpräsident Kretschmer auch viele Zuschriften von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die aus Angst um ihre Familien solche harte Maßnahmen, wie sie jetzt in Kraft sind, gefordert haben.“ Sie formulieren das sehr richtig. Die Menschen haben Angst. Das ist eine Emotion, die manchmal Sinn macht, oft aber auch nicht (wie übertriebene Flugangst, Angst vor Spinnen, Angst vor Menschenmassen etc.) Diese Angst wird medial befeuert. Eine Untersuchung hat ergeben, dass die Menschen im Schnitt die Letalität von SARS-CoV-2 um das 300fache überschätzen. Mediale Vergleiche mit der Pest (an der fast jeder Infizierte auch gestorben ist und mind. einem Viertel der Bevölkerung das Leben gekostet hat) sind wenig hilfreich, die Panik bzw. Angst zu mildern. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass auch Sie von dieser Überschätzung und Angst betroffen sein könnten.

Mit immer noch sorgenvollen Grüßen,
Grit Marx

(Beitrag redaktionell gekürzt, Original mit Quellenangaben hier.)